Mittwoch, 21. Januar 2015

Vom Dilemma der Eiche

"Erzähl mir, warum die Eiche es um's Verrecken nicht geschafft hat, sich die Schnürsenkel zuzubinden. Und was hatte sie eigentlich nochmal vor?"


"Ach verflucht nochmal!", stöhnte ich auf.
     Blätter raschelten und Äste knackten, als sich die anderen Bäume zu mir umschauten. Was los sei, fragten sie mich verwundert. Als wäre das nicht offensichtlich. Hatten sie doch den ganzen Morgen über schon beobachten können, wie ich versuchte, meine Schnürsenkel zuzubinden. 
     "Aber liebe Eiche, wieso ist dir das denn so wichtig?", fragte die alte Frau Ahorn, die schon ihre großen Äste über den Boden in diesem Wald ausgebreitet hatte, bevor ich überhaupt gepflanzt wurde. Ich mochte sie, sie war immer mein Vorbild gewesen. Ihre Blätter hatten eine elegante Form und im Herbst eine schöne kräftige Farbe. Mein Freund, Herr Birke, sah mich ebenfalls verwundert an. "Du hast doch nicht etwa vor, von hier wegzugehen?" Ich verzog die Rinde. "Sehr witzig, Herr Birke. Ich bin ein Baum, meine Wurzeln sind hier verankert, ich kann nicht weg von hier, selbst wenn ich es wollte!" "Also bleibst du bei uns, wie schön", sagte Frau Ahorn. "Aber wieso versuchst du dann, deine Schnürsenkel zu binden?" Ich zögerte mit meiner Antwort. Wie sollte ich ihnen das nur erklären? Was würden sie von mir denken, wenn sie die Wahrheit wüssten?
     "Also, wisst ihr...", begann ich. Ich versuchte nicht zu stottern, als ich weitersprach, doch es wollte mir nicht so recht gelingen. "Das... das ist so: ich... ach, ich weiß nicht... wie ich euch das erklären soll..." Die anderen Bäume warteten geduldig auf meine Antwort, keiner viel mir ins Wort, alle hatten Verständnis für mein Stocken ( - haha, Wortspiel). Mir lief ein Tropfen Harz über die Rinde, mit so viel Liebenswürdigkeit hatte ich nicht gerechnet. Frau Ahorn nickte mir aufmunternd zu. "Nur zu, kleine Eiche, sag uns, was dich bedrückt." Ich zögerte immer noch ein bisschen.
     "Wisst ihr, es ist nicht so, dass ich euch verlassen will, wirklich nicht", begann ich. "Es ist nur ... ich würde wirklich gerne einmal mehr von der Welt sehen, als nur diesen Wald. Versteht mich nicht falsch, dieser Wald gefällt mir sehr gut und ich liebe jeden Bewohner darin. Aber ich bin einfach so neugierig, was es sonst in der Welt zu sehen gibt. Ich -" 
     Ich musste abbrechen, denn die folgenden Worte fielen mir ungeheuer schwer, obwohl ich wusste, dass ich den anderen Bäumen vertrauen konnte. "Ich ... ich komme mir einfach so klein vor, so, als könnte ich nie etwas erreichen!" Ich war mir nicht sicher, ob das, was ich sagte einen Sinn für die anderen Bäume machte. Ob sie verstanden, was ich meinte.
     Keiner sagte etwas. Keiner schaute mich an. Alle blickten zu Boden. Nachdem ich geendet hatte, war es für eine Weile mucksmäuschenstill im Wald. Man hätte eine Tannennadel fallen hören können. Ich runzelte die Rinde, als mir nach einiger Zeit immer noch niemand antwortete. 
   Schließlich stieß Frau Ahorn ein süßes Seufzen aus. "Ach, kleine Eiche..." Ich bemerkte, dass die anderen Bäume die Rinde zu einem kleinen Lächeln verzogen hatten und ließ die Äste ein wenig sinken. Doch dann redete Frau Ahorn weiter: "Das geht uns doch allen so. Und weißt du was? Es gibt einen Weg, wie das geht, was du dir erhoffst!" Nun war ich ehrlich überrascht. Ich hob die Äste und sah Frau Ahorn erwartungsvoll an. "Wirklich?", hauchte ich atemlos. "Natürlich!" antwortete sie. "Das machen wir alle von Zeit zu Zeit!" - die anderen Bäume nickten zustimmend, andere lächelten oder zwinkerten mir zu. "Wie? Wie geht das?" fragte ich aufgeregt. Frau Ahorn musste schmunzeln über meinen plötzlichen Enthusiasmus. 
     "Es ist ganz einfach: Hör dem Wind zu. Er flüstert dir zu, erzählt dir von den Abenteuern, die er erlebt hat, von den Ländern, die er durchquert hat. Und lausche den Wolken, sie singen von den Dingen, die sie gesehen haben. Und dann schließe die Augen. Und stell dir vor, du wärst dort. Und hör nie auf, daran zu glauben, dass du eines Tages wirklich dort sein wirst. Liebe Eiche, hör niemals auf zu träumen!" 
     Als sie geendet hatte, war es wieder ganz still im Wald. Die Sonne kam hinter den Wolken hervor und warf ein tanzendes Muster durch meine Blätter auf den Boden, die im Wind wiegten. Es war, als lächelte sie mir zu. 
     Dann sagte ich: "Danke Frau Ahorn. Ich verspreche, ich werde das nie vergessen."

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